Afghanistan – zwischen Hoffen und Bangen

Seit dem überstürzten Abzug der westlichen Staaten versinkt das Land im Chaos, die Not ist groß, die Angst ebenso. Umso wichtiger ist die Arbeit der Hilfsorganisationen, die noch vor Ort sind. Doch die Erfahrungen fallen sehr unterschiedlich aus.

Auch wenn der Abzug aus Afghanistan längst angekündigt war, keiner war so wirklich darauf vorbereitet, was das eigentlich bedeuten würde. Die Nachrichten waren in der Anfangszeit voll von den dramatischen Szenen an den Flughäfen, als zahlreiche Menschen das Land noch verlassen wollten. Von Menschen, die verfolgt wurden oder dies zumindest unter der neuen Regierung befürchten mussten. Und die doch bleiben mussten. Seither hat das mediale Interesse abgenommen. Dabei fängt für die einheimische Bevölkerung die Not jetzt erst an, selbst für die, die nicht im Fadenkreuz der Taliban stehen.

Ein Land am Abgrund

„Die humanitäre Lage in Afghanistan ist desolat. Man kann es gar nicht anders sagen: Das Land steht am Abgrund“, so das Fazit von Thomas ten Boer, der als Landesdirektor in Afghanistan für die Deutsche Welthungerhilfe e.V. tätig ist. „Mehr als die Hälfte der Menschen dort ist auf humanitäre Hilfe zum täglichen Überleben angewiesen, seien es Nahrung, medizinische Versorgung oder auch Unterkünfte. Fast fünfzig Prozent gehen dort abends hungrig ins Bett, viele Kinder sind unterernährt.“ Das ist für die Bevölkerung nichts Neues. Das Land leidet unter den Folgen der jahrzehntelangen bewaffneten Auseinandersetzungen. Das Land leidet aber auch unter den Folgen des Klimawandels und der Dürren in den letzten Jahren. Die heimische Landwirtschaft allein ist nicht mehr in der Lage, die Menschen zu ernähren.

Die Welthungerhilfe versucht, in zweifacher Hinsicht zu helfen. Auf der einen Seite kämpft die Hilfsorganisation dafür, gemeinsam mit den Menschen vor Ort strukturelle Verbesserungen zu schaffen, gerade auch im Bereich der Landwirtschaft. So bietet sie Trainings für Kleinbauern, in denen sie Anbaumethoden erklärt oder auch das Thema erneuerbare Energien anspricht. Doch die Möglichkeiten sind begrenzt. „Die langfristige Entwicklungsarbeit ist mehr oder weniger auf Eis gelegt worden, auch wegen der unsicheren Lage“, fährt ten Boer fort. Priorität habe erst einmal die humanitäre Hilfe. „Wir bereiten gerade die Winterhilfe vor: Nahrungsmittel für bedürftige Familien, warme Kleidung, Decken. Ein Großteil der Häuser und Gebäude im ländlichen Gebiet sind zerstört durch den Krieg. Da fehlt es den Menschen an allem.“


Vorteil langjähriges Engagement

Auch Katachel e.V. versucht derzeit, die größte Not zu lindern. Da geht es um die Verteilung von Hilfsgütern, etwa große Säcke Mehl und 10-Liter-Kanister Speiseöl als Grundversorgung. Aber es geht auch um Hilfe für Leute, die auf der Flucht sind und denen nichts mehr geblieben ist. Und das sind viele, die Mittel reichen oft nicht für alle. „Immer wieder müssen wir Menschen Nein sagen“, erklärt Sybille Schnehage, Gründerin und 1. Vorsitzende von Katachel. „Und das tut weh. Aber wir sind froh, dass wir überhaupt helfen dürfen und inzwischen die offizielle Genehmigung haben.“

Dabei kommt dem Verein zugute, dass er fest in der Region verwurzelt ist. Seit 30 Jahren ist Katachel in Kundus vertreten, einer Provinz im Nordosten des Landes. Damals waren bereits die Taliban an der Macht. Auch wenn die neue Regierung oft skeptisch ist gegenüber Hilfsorganisationen und am Anfang unklar war, ob die Arbeit weitergehen darf, am Ende überzeugte der jahrelange Einsatz von Schnehage und den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen über mehrere Regierungen hinweg, der sich allein an den Menschen vor Ort ausrichtet. „Die Leute kennen mich alle über Jahre. Sie kennen unsere Arbeit und wissen, dass wir unpolitisch sind und einfach nur Leuten helfen wollen. Das hilft uns im Moment sehr.“

Gemeinsam mit den Dorfgemeinschaften

Von einer solchen Langzeiterfahrung profitiert momentan auch der Afghanische Frauenverein, der ebenfalls seit 30 Jahren vor Ort tätig ist. Eigentlich sollte man bei einem solchen Namen denken, dass die Organisation als eine der ersten schließen musste. Doch das Gegenteil ist der Fall. „13 unserer 15 Projekte sind unvermindert aktiv seit der Machtübernahme der Taliban“, berichtet Geschäftsführerin Christina Ihle mit deutlich hörbarer Erleichterung. „Und auch bei den verbleibenden zwei Projekten bin ich optimistisch, dass es weitergehen wird. Das war am Anfang noch unklar. Unsere große Sorge war: Können unsere Ärztinnen, unsere Lehrerinnen, unsere Hebammen gesichert weiterarbeiten? Das war eine große Angstphase auf allen Seiten. In den ersten Tagen haben wir stündlich nach der Machtübernahme der Taliban evaluiert, wie sicher oder unsicher die Lage für unsere Einsatzteams ist. Die meisten Kolleginnen wollten aber nicht abwarten, sondern haben gleich weitergemacht.“ Zu groß war die Not, etwa im Gesundheitsbereich. Zu groß war aber auch das Bedürfnis, die vielen wichtigen Projekte weiter voranzutreiben, an denen der Verein arbeitet.

Und die sind sehr vielseitig. Mal geht es um die Eröffnung einer Mädchenschule, mal soll ein Brunnen gebaut oder eine Gesundheitsstation eröffnet werden. Das Besondere dabei ist: Sämtliche Projekte werden gemeinsam mit der jeweiligen Dorfbevölkerung geplant und umgesetzt. Der Verein bringt die finanziellen Mittel auf und die Menschen vor Ort die Arbeitskraft, das Material oder auch die Grundstücke. Tatsächlich sind es die Dorfgemeinschaften, die mit ihren Anliegen auf den Afghanischen Frauenverein zugehen. Auf diese Weise entstehen tatsächlich einheimische Projekte, die von den Dorfgemeinschaften geschützt und gesichert werden. Das bedeutet aber nicht, dass die Projekte dadurch zum Selbstläufer werden. Denn auch wenn sich in mancher Hinsicht die Lage etwas beruhigt hat und Organisationen weiterarbeiten können, weiß niemand, wie sich die Situation in Afghanistan langfristig entwickelt, verdeutlicht Christina Ihle. „Noch ist das Wirken der Taliban in den verschiedenen Provinzen sehr unterschiedlich, mal moderat, mal konservativer. Wichtig ist, dass sich die internationale Gemeinschaft jetzt nicht von Afghanistan abwendet, sondern im Dialog bleibt.“

Decken, Matten, Eimer und Kanister:
Der Afghanische Frauenverein versorgt Bedürftige mit dem Notwendigsten.
Eine Mädchenklasse des Afghanischen Frauenvereins in Kunduz:
Unterricht bis Klasse 6 ist wieder möglich, aber nur streng nach Geschlechtern unterteilt.

Verfolgung von Medienschaffenden

Eine Organisation, die bereits jetzt sehr mit der neuen Regierung zu kämpfen hat, ist Reporter ohne Grenzen. Anne Renzenbrink, Referentin für Afghanistan, bringt es auf den Punkt: „Die Situation in Afghanistan ist furchtbar. Journalistinnen und Journalisten schweben dort akut in Lebensgefahr. Die Taliban gehören zu den größten Feinden der Pressefreiheit. Die Situation war schon vorher gefährlich für Medienschaffende. Es hatte sich in Afghanistan aber eine lebendige Medienlandschaft entwickeln können, in der über verschiedenste Themen berichtet werden konnte, auf den unterschiedlichsten Kanälen. Das wird alles gerade zerstört. Viele wurden gezwungen, ihre Medien zu schließen.“

Seit der Machtübernahme stehen die Telefone bei Reporter ohne Grenzen nicht mehr still. Tausende Mails haben sie erreicht, von verzweifelten Menschen, die das Land verlassen möchten, oder Angehörigen, die in Sorge sind. Die Organisation setzt sich dafür ein, dass verfolgte Medienschaffende sowie deren Familien außer Landes gebracht werden. Rund 150 sowie Familienangehörige haben bisher eine Aufnahmezusage erhalten. Doch noch immer harren viele aus und müssen täglich Angst haben: Die Taliban gehen zum Teil von Haus zu Haus, um dort Medienschaffende zu suchen, die sich versteckt haben. Manche sind dabei sogar freiwillig geblieben, um auch weiterhin berichten zu können und auf die Lage vor Ort aufmerksam zu machen. Denn auch Anne Renzenbrink gibt zu bedenken: „Wie wird der afghanische Journalismus aussehen, wenn viele Journalisten und Journalistinnen aufgrund der akuten Lebensgefahr das Land verlassen haben? Was bedeutet das für die Bevölkerung, wenn sie unterversorgt ist mit Informationen?“ Fragen, für die niemand eine Antwort hat, wie bei so vielem derzeit in Afghanistan.

Viele Frauen müssen sich inzwischen allein um ihre Kinder kümmern,
da die Männer geflohen oder im Krieg gestorben sind

Oliver Armknecht

Fotos: Thomas Rubner, Afghanischer Frauenverein, Hamdard/Welthungerhilfe, Glinski/Welthungerhilfe.
Der Artikel erschien im Spendenmagazin 2021.

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