„Ich bin froh, dass ich hier schlafen darf“

Knochenentzündung oder Noma, das sind Krankheiten, die wir in Deutschland kaum kennen – aber behandeln können! Ein Bericht über Hilfen für verletzte und schwer erkrankte Kinder in und aus Krisengebieten.

Esmail lag still auf einer Bank, sein Bein war eine einzige Wunde, der Körper ausgemergelt. Als die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vom Friedensdorf International ihn das erste Mal sahen, „haben wir die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Was kann ein kleiner Mensch ertragen!?“. Die Familie hatte nach seinem Unfall kein Geld für eine Behandlung, nicht für Medikamente, keine Schmerzmittel, nur einen notdürftigen Verband. Als der gewechselt wurde, fehlte Esmail die Kraft zu weinen. Doch er starb nicht. Ein „Wunder“ nennt Claudia Peppmüller, Leiterin Öffentlichkeitsarbeit der Aktion Friedensdorf e.V., die Geschichte des kleinen afghanischen Jungen: „Heute rennt er auf mich zu, freut sich, lacht.“ Esmail kam im Frühjahr in eine Tübinger Klinik auf die Intensivstation. Die Ärzte mussten sein Bein amputieren. Inzwischen hat sich der Junge gut an eine Prothese gewöhnt. Er ist kaum wiederzuerkennen und kann mit seinen Freunden spielen, ohne Schmerzen.

Friedensdorf-Mitarbeiterin Claudia Peppmüller ist seit 1994 dabei, wenn Kinder zur Behandlung nach Deutschland geholt werden.

„Jedes Kind ist es wert, dass man sich für es einsetzt.“ Claudia Peppmüller arbeitet seit ihrem Anerkennungsjahr als Diplom-Sozialarbeiterin 1994 beim Friedensdorf in Oberhausen, dem Ort, an dem die Kinder wohnen, wenn sie nach Deutschland kommen. Sie war bei vielen Einsätzen dabei, um Kinder aus Krisengebieten zu holen, die unversorgt geblieben wären, beispielsweise ein Mädchen, das Batteriesäure geschluckt hatte: „Da habe ich das erste Mal Ärzte weinen sehen. Aber sie ist operiert worden und pummelig und wunderhübsch wieder nach Hause gekommen.“

Nach Hause: Das sind Länder wie der Irak, Tadschikistan, Kirgistan, Angola oder Afghanistan. Länder, in denen Krisen, Krieg, Armut und mangelnde medizinische Infrastruktur eine Behandlung der Kinder unmöglich machen. Sie werden kurzzeitig ausgeflogen, in deutschen Kliniken behandelt und nach einer Rehabilitations- und Nachversorgungszeit im Friedensdorf wieder zu ihren Eltern zurückgebracht, sofern alles gut geht. Und das tut es meistens seit 1967, als die Einzelfallhilfe, die wichtigste Säule der Friedensdorf-Arbeit, gegründet wurde. Damals kamen Opfer des Vietnamkriegs, die mehrheitlich an den Folgen von Napalm-Verbrennungen litten, in Oberhausen an.

Essen oder Medizin?

So viele Kinder wie jetzt waren jedoch selten in Deutschland, vor allem aus Afghanistan. Seitdem die Taliban wieder an der Macht sind und der Westen deren Regierung nicht anerkennt, nimmt nicht nur die Armut zu, auch die humanitäre Hilfe wurde weitgehend gestoppt, viele Ärzte haben das Land verlassen. Es gibt keine Antibiose, jede Medizin kostet etwas. In Deutschland zahlen Krankenkassen, dort ist das anders. Die Basisversorgung fehlt. „Im Moment ist die dringlichste Frage: Wie komme ich an Essen?“, erzählt Claudia Peppmüller weiter von nur einem Fall, wo eine Mutter, eine Lehrerin, das Haus verkaufte für die Behandlung ihres Sohnes. „Ihr Gehalt reicht nicht mal für die Ernährung der drei Kinder. Wir haben den Jungen mitgenommen.“

Wer darf mit? Die Kinder werden sorgfältig ausgewählt, je nach Krankheit, je nach Behandlungsplätzen in deutschen Krankenhäusern, die Operation und Bett kostenlos zur Verfügung stellen. „Natürlich können wir nicht allen helfen. Ein Vater zeigte mir sein quittengelbes Mädchen: Leberkrebs im Endstadium. Da können wir nichts machen. Ich habe ihm gesagt: ‚Küsse sie, solange es geht.‘“ Die zur Verfügung stehenden Plätze sind für Diagnosen wie Verbrennungen, urologische Probleme, vorwiegend Knochenentzündung – etwas, das es in Deutschland kaum noch gibt. Doch unbehandelt kann selbst eine einfache Zahnentzündung sich lebensbedrohlich weiterentwickeln. „Unsere afghanische Partnerorganisation Roter Halbmond gibt jeweils vor Ort bekannt, wann wir kommen“, beschreibt Claudia Peppmüller den Ablauf weiter. Friedensdorf arbeitet immer mit einheimischen Organisationen zusammen. Einerseits, um auch bei Machtwechseln weiterhandeln zu können – das ist eine Lehre aus Vietnam in den 70er-Jahren, als Kinder nicht mehr zurückdurften. Andererseits sorgt der Rote Halbmond dafür, dass die Eltern alle Papiere mitbringen, die für die Ausreise nötig sind.

Dass Esmail seine schwere Beinverletzung überlebt hat, ist ein medizinisches Wunder. Heute kann er wieder fröhlich mit Freunden spielen, wie hier im Friedensdorf in Oberhausen.

Außerdem ganz wichtig: Nicht nur die Kinder, auch die Eltern lernen die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen kennen, stellen Fragen, ein Dolmetscher übersetzt. Und ein einheimischer Arzt erklärt alles. Dann chartert die Hilfsorganisation ein Flugzeug und es geht los: Der Abschied ist schlimm: Alle weinen. Aber eigentlich sind die Kinder total tapfer und immer welche zur Nachbehandlung dabei, die schon mal in Deutschland waren. Die erzählen vom Leben im Dorf und wie ihnen geholfen wurde, sie nehmen den Neuen die Angst. „Ein Kind sagte mal: ‚Ich bin froh, dass ich hier schlafen darf.‘ Das haben wir erst nicht verstanden, aber klar: Zu Hause gibt es keine Narkose bei OPs.“

Das internationale Friedensdorf in Deutschland

Nach der Operation leben die Kinder noch mindestens sechs Monate im Friedensdorf international, mit ihren neuen Freunden aus den unterschiedlichsten Ländern. Dort geht es sehr lebendig zu. „Wir nehmen sie auch nicht aus der Pflicht“, sagt Claudia Peppmüller. Heißt: Tischdienst, Betten selbst machen, den anderen helfen, vor allem Groß hilft Klein – so, wie sie es von zu Hause kennen. Und dabei so friedlich, wie sie es von dort nicht kennen.

Im Friedensdorf gibt es jetzt auch ein neues Medizinzentrum mit Behandlungsraum. „Ein Riesenvorteil: Wir sind nicht mehr nur auf die Kliniken angewiesen, können auch Eingriffe vornehmen und medizinisch nachbehandeln. Aktuell haben wir 184 Kinder hier, die versorgt werden müssen“, wie Peppmüller erläutert. „Wir fahren eine eigene Küche, brauchen ganzjährig Sachspenden und jetzt wird es kalt.“ Heißt: Dicke Wintersachen als Sachspenden sind willkommen! Bei der Heimreise der Kinder nehmen die Flugzeuge außerdem Hilfsgüter mit, die vorher gespendet oder gekauft wurden.

1988 kam Sadar Sakhi als eines der ersten Kinder aus Afghanistan zur Behandlung ins Friedensdorf in Deutschland. Heute hilft er anderen in Afghanistan.

Ein Antibiotikum gegen Noma

Die Aktion Friedensdorf e.V. ist nur ein Beispiel für medizinische Hilfe für Kinder in und aus Krisenregionen. Auch die INTERPLAST-Stiftung hilft mit Projekten für humanitäre plastische Chirurgie in den ärmsten Regionen der Welt, zum Beispiel in Bolivien. Oft leiden die Kinder an den Folgen von Verbrennungen am offenen Feuer. Eine Folge von Mangelernährung ist jedoch Noma, der „Wangenbrand“. Die Hilfsorganisation Gegen Noma-Parmed e.V. beschreibt sie als „bakterielle Krankheit, nicht ansteckend, aber in 80 Prozent der Fälle tödlich. 100.000 Kinder pro Jahr erkranken daran in Afrika – wenn sie nicht schnell behandelt werden, zerfressen die Bakterien innerhalb von zwei Wochen ihr Gesicht. Antibiotika und Desinfektionsmittel können die Krankheit im Frühstadium innerhalb von 48 Stunden heilen. Ein paar Euro würden reichen, doch Noma ist die Krankheit der absoluten Armut.

Die bakterielle Krankheit Noma hinterlässt offene Wunden, die nach der Heilung geschlossen werden
müssen. Der Schauspieler Michael Mendl setzt sich bei Gegen Noma-Parmed e.V. dafür ein.

Der Verein leistet seit 2008 Aufklärungsarbeit, mit einem Schwesterverein in Frankreich und einem Partnerschaftsvertrag mit der Regierung von Burkina Faso. Aber es ist nicht einfach, um Hilfe zu werben. Die Kinder sehen grausam entstellt aus. Dabei zeigen sich die ethischen Grenzen der Spendenwerbung und Aufklärung deutlich. Doch das schnelle Erkennen der ersten Anzeichen von Noma ist für die Kinder überlebenswichtig: Zuerst entzündet sich „nur“ das Zahnfleisch. Das müssen Eltern, Lehrer und Lehrerinnen, Ärzte und Ärztinnen wissen, um so früh wie möglich handeln zu können. Stattdessen werden die Kinder oft von der Dorfgemeinschaft weggeschickt. Michael Mendl, Schauspieler und Schirmherr von Gegen Noma-Parmed e.V., mahnt: „Wir dürfen heutzutage nicht zulassen, dass Kinder aufgrund mangelnder Information in der absoluten Einsamkeit sterben müssen.“ Damit Noma erst gar nicht entsteht, klären die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der Region Sahel über Hygiene, Zahn- und Mundpflege und die Folgen von Mangelernährung auf. Je nach Spendenaufkommen statten sie auch die Gesundheitsstationen mit Medikamenten aus und versuchen, sechs bis 23 Monate alte Kinder präventiv mit Nahrungsergänzungsmitteln zu versorgen.

Karen Cop

Fotos: Aktion Friedensdorf e.V., Gegen Noma-Parmed e.V.
Der Artikel erschien im Spendenmagazin 2022.

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