Seit 2019 ist die bekannte Theologin Dr. Margot Käßmann Botschafterin des internationalen Kinderhilfswerks terre des hommes. Dabei setzt sie sich für Menschen- und Kinderrechte ein und äußert sich regelmäßig zu Themen wie Kinderarmut und Migration.
Wie und wann kam es zu Ihrem Engagement bei terre des hommes?
Das Engagement für Kinder lag mir immer am Herzen. In meiner Zeit als Landesbischöfin in Hannover habe ich daher unter anderem das Netzwerk Miriam und die Aktion „Zukunftsgestalten“ ins Leben gerufen. Die Anfrage von terre des hommes, Botschafterin zu werden, hat mich daher gefreut. Ich habe mit dem Ruhestand alle kirchlichen Ämter, Kuratoriumsaufgaben und Schirmherrschaften abgegeben, weil ich denke, es ist für die Älteren immer auch Zeit, die Jüngeren nachrücken zu lassen. Aber auch für die Älteren ist gesellschaftliches Engagement gefordert, meine ich. Der Einsatz für die Rechte von Kindern in dieser Welt zeichnet terre des hommes aus. Dabei finde ich beeindruckend, dass es nicht um reine Spendenaktionen geht, sondern es an so vielen Orten in Deutschland lokale Unterstützungsgruppen gibt. Das heißt, die Arbeit ist geerdet mit Engagement und Information.
Bei meinen Reisen im kirchlichen Auftrag in Länder Afrikas, Lateinamerikas und Asiens bin ich zudem immer wieder auf Projekte von terre des hommes gestoßen. Entwicklungspolitische Arbeit, die Menschen Möglichkeiten zur eigenen Entfaltung bietet, ist gerade in einer Zeit wichtig, in der Entwicklungspolitik fast nur noch unter dem Aspekt „Bekämpfung von Fluchtursachen“ gesehen wird. Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, dass Menschen in reichen Ländern sich einsetzen für diejenigen, deren Entwicklungschancen durch regionale Konflikte, Korruption oder internationales Unrecht begrenzt werden. Bildung ist für mich dabei ein zentraler Aspekt, weil sie für Kinder überall auf der Welt der Schlüssel zu einer selbstbestimmten Zukunft ist.
Ich habe selbst vier Kinder und sieben Enkelkinder. Sie haben das große Privileg, in Deutschland zu leben, mit Zugang zu gesunder Ernährung, Trinkwasser, Bildung, medizinischer Versorgung. Es gibt aber auch in Deutschland Kinder, die arm sind. Das Engagement für Kinder hier im Land und das Engagement für Kinder in Indien, Bolivien oder Mosambik müssen sich daher ergänzen.
Wie sehen Sie Ihre Aufgaben als Botschafterin von terre des hommes?
Zum einen „werbe“ ich als Person nach außen für terre des hommes. Zum anderen besuche ich engagierte terre-des-hommes-Ehrenamtliche in Deutschland und versuche auf diese Weise, das Engagement zu würdigen und zu ermutigen. Und schließlich besuche ich Projekte in Deutschland und im Ausland, um sie zu stärken, aber auch, um selbst informiert darüber reden zu können. Mir ist wichtig, dass wir Kinder in anderen Ländern unterstützen, aber nicht herablassend, sondern auf Augenhöhe. Als Christin hat für mich jeder Mensch als Geschöpf Gottes eine ganz eigene Würde. Im Evangelium spricht Jesus davon, dass wir von Kindern lernen können: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder…“ Das heißt, Kinder sind nicht Objekte unserer Hilfe, sondern Subjekte, von denen wir lernen können. Das scheint mir in der Arbeit von terre des hommes eine Prämisse zu sein und das unterstütze ich gern.
Welches sind die dringendsten Probleme in Bezug auf Kinderrechte?
Jedes Kind hat ein Recht darauf, ohne Gewalt aufzuwachsen. Dahinter bleiben wir leider weltweit zurück, auch in unserem Land. Vor allem das Elend von Kindern in Kriegssituationen und auf der Flucht ist furchtbar. Der zweite große Bereich ist die Sicherung der Lebenschancen der Kinder nicht nur heute, sondern auch in Zukunft. terre des hommes unterstützt Projekte für Menschen, die unter Dürre, Überschwemmungen oder bewaffneten Konflikten als Folge des Klimawandels leiden, und setzt sich auf politischer Ebene ein für ein Kinderrecht auf gesunde Umwelt, in der auch die Kinder von morgen leben können.
Hat sich die Situation in den letzten Jahren gebessert?
Wir sehen, dass in Deutschland immer mehr Kinder gewaltfreie Erziehung erleben. Das ist ein messbarer, guter Veränderungsprozess. Anderes Beispiel: Seit der Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention im November 1989 ist die Zahl arbeitender Kinder weltweit von 260 auf 152 Millionen gesunken. Gleichzeitig jedoch sterben nach wie vor täglich rund 14.000 Kinder an vermeidbaren Krankheiten.
In welchen Ländern ist die Not besonders groß?
In den Ländern der Subsahara, in denen Kinder unter Hunger leiden. Aber auch in allen Ländern, in denen Krieg herrscht und damit Angst. In Syrien leben Kinder, die gar nicht wissen, was Frieden ist. Generell gesprochen ist die Not dort am größten, wo Kriege und Naturkatastrophen als Folge von Umweltzerstörung herrschen und wo es keine funktionierenden sozialen Sicherungssysteme gibt.
Welches Ereignis während Ihrer Arbeit als Botschafterin hat Sie besonders geprägt?
Eine Reise nach Indien, in den Textilgürtel von Tamil Nadu, wo mehr als zwei Millionen Menschen in der Textilindustrie arbeiten. Dort haben wir terre-des-hommes-Projektevor Ort besucht.
Selbst in den Spinnereien, die wir überhaupt besichtigen durften, gab es keinerlei Arbeitsschutzmaßnahmen – keine Atemmasken, keine Ohrstöpsel. Zudem schlafen die Mädchen und jungen Frauen auf dem Gelände, dürfen es überhaupt nicht verlassen. Das wird von der Fabrik als „Hostel“ und gute Versorgung verkauft, ist aber im Grunde eine moderne Form der Sklaverei. Was mich in einer Spinnerei, die wir besucht haben, am meisten abgeschreckt hat, war der enorm hohe Lärmpegel. Selbst in den Schlafräumen hatten die Mädchen keine Ruhe, dort war es genauso laut. Eine Ärztin betonte übrigens, wie hoch die Gefahr von Hörschäden ist. Auch die Gefahr von Verletzungen war beim Wechseln der Spindeln sehr hoch.
Einmal im Jahr gibt es fünf Tage Urlaub. Viele Mädchen bitten ihre Eltern, nicht zurück in die Fabriken gehen zu müssen. Aber das System sieht so aus, dass die Mädchen für drei Jahre unterschreiben und sich damit das Geld für die Mitgift bei der Hochzeit verdienen. Ein Mädchen war zur Übernahme einer zweiten Schicht gezwungen worden, obwohl sie todmüde war. Sie ist in ihrer Erschöpfung mit den Beinen in eine Maschine geraten, sodass ihre Unterschenkel amputiert werden mussten. Sie wurde in ein Krankenhaus gefahren und die Fabrik behauptete, dass sie damit nichts zu tun habe. Ihren Fall hat die Partnerorganisation von terre des hommes vor Gericht gebracht, sodass das Mädchen zumindest eine kleine Leibrente bekommt.
Die westliche Welt profitiert zum Teil auch von Kinderarbeit. Wie lässt sich das ändern?
Ich denke, wir müssen das Lieferkettengesetz ausbauen. Wir brauchen Label: „ohne Kinderarbeit gefertigt“, wie beim Teppichsiegel Rugmark. Und wir müssen hier in den Industrienationen das Bewusstsein der Verbraucherinnen und Verbraucher schärfen. Wer konsumiert, hat viel Einfluss, wenn er oder sie will.
Zuletzt haben die Diskussionen um Flüchtlinge wieder zugenommen. Welche Verantwortung kann und sollte Deutschland hier übernehmen?
Wir sind ein reiches Land! Es ist eine Schande, wenn Zustände wie in Moria geduldet werden. Kinder sollten bei uns Zuflucht finden, in Frieden aufwachsen können. Mir ist klar, dass wir nicht die ganze Welt retten können. Aber wenn ein Kind Hilfe braucht, dürfen wir sie nicht verweigern. Das sage ich auch als Christin.
Wie sieht es mit Kinderrechten in Deutschland aus? Wo ist hier noch Verbesserungsbedarf?
Mich beunruhigt, dass soziale Herkunft und Bildungsabschluss so eng zusammenhängen. Und dass jedes sechste Kind in Armut aufwächst. Armut ist bitter und grenzt aus! Sehr gut war an einem terre-des-hommes-Projekt in Weiden zu erleben, was es bedeutet, wenn Kinder konkret gefördert
werden mit Hausaufgabenhilfe, Sprachförderung und Betreuung. Für sie eröffnen sich Chancen, die sie sonst nie gehabt hätten!
Die positive Haltung zum Spenden gehört zum Kern praktisch aller Weltreligionen. Wenn wir hier in Deutschland seit Langem eine Entwicklung zum Bedeutungsverlust der christlichen Kirchen sehen, was bedeutet dies nach Ihrer Erfahrung und Ihrer Einschätzung für die Zukunft des Spendens hierzulande?
Zum einen sind noch immer mehr als die Hälfte der Deutschen Mitglied einer der christlichen Kirchen, mehr als fünf Prozent sind Musliminnen und Muslime, es gibt Menschen jüdischen, hinduistischen, buddhistischen Glaubens in unserem Land. Die religiöse Tradition des Gebens für Schwächere wird also erhalten bleiben. Aber ich denke, auch Menschen, die nicht gläubig sind, wissen um die Verpflichtung, für andere zu geben. Allerdings zeigen Umfragen: Menschen wollen weniger regelmäßig spenden, sondern lieber konkret und akut. Deshalb ist es wichtig, dass
Spendenaufrufe konkret sind und nicht pauschal, dass sie die menschlichen Geschichten erzählen und damit emotionale Bindung aufbauen. Und klar muss sein: Meine Spende kommt direkt bei denen an, die sie benötigen!
Und wie soll es in Zukunft weitergehen? Welche weiteren Projekte sind bei Ihnen geplant?
Im kommenden Jahr kann ich endlich Besuche bei den terre-des-hommes-Gruppen in Bergisch-Gladbach und Würzburg nachholen, die coronabedingt ausfallen mussten. Und sobald Fernreisen wieder möglich sind, werde ich ein weiteres Projekt in Übersee besuchen.
Interview: Oliver Armknecht
Fotos: Christel Kovermann, Norbert Neetz, terre des hommes
Der Artikel erschien im Spendenmagazin 2021.