Der Schock ist groß: Es herrscht wieder Krieg, mitten in Europa. Doch auch die Solidarität und Hilfsbereitschaft ist enorm. Zahlreiche Organisationen sind zur Stelle, helfen vor Ort oder auch hierzulande.
Der 24. Februar 2022 ist ein Datum, das nicht nur in der europäischen Geschichtsschreibung zu einem Wendepunkt wurde. Viele Jahre, gar Jahrzehnte, hatte man geglaubt, durch wirtschaftliche Beziehungen die Welt zusammenrücken lassen zu können. „Wandel durch Handel“ lautete das Konzept, demzufolge Kriege in Zukunft kaum mehr möglich sein sollten. Ein Irrtum, wie sich herausstellte, als russische Truppen die Ukraine überfielen. Natürlich, eigentlich befanden sich die beiden benachbarten Länder bereits seit 2014 im Krieg, seit der Annexion der Halbinsel Krim und östlicher Gebiete. Immer wieder kam es trotz der Versuche von Waffenstillständen zu Kämpfen. Doch das, was acht Jahre später geschah, war noch einmal eine deutliche Steigerung. Seither befindet sich das osteuropäische Land im Dauerkrieg, viele Tausende Menschen wurden getötet, mehrere Millionen sind auf der Flucht. Selbst Organisationen, die seit vielen Jahren in der Ukraine tätig waren, wurden von den Ereignissen überwältigt.
Aufbau und Erhalt von Strukturen
„Mit dem 24. Februar hat sich eigentlich alles verändert“, bestätigt auch Matthias Dörr, Leiter der Abteilung Kommunikation und Kooperation bei Renovabis. Seit 1993, dem Jahr der Gründung, ist das katholische Hilfswerk mit dem Schwerpunkt Mittel- und Osteuropa in der Ukraine tätig. Von den 29 Ländern, welche die Organisation in diesem Gebiet unterstützt, war die Ukraine schon vor Kriegsgebiet das mit der höchsten finanziellen Zuwendung. 110 Millionen Euro flossen in die unterschiedlichsten sozialen Projekte, darunter Drogenprävention und Altenpflege. Ein Schwerpunkt war beispielsweise, die ehrenamtliche Arbeit in der Ukraine zu aktivieren und Strukturen zu schaffen. Diese Strukturen können Renovabis und die zahlreichen Organisationen vor Ort jetzt gut gebrauchen. „In der aktuellen Situation kommt uns das breite Partnerschaftsnetzwerk zugute, das wir in den 30 Jahren entwickelt haben. Wir kennen die Orte, wir kennen die Leute. Und darauf können wir aufbauen“, resümiert Dörr.
Ganz überraschend kam der Überfall ohnehin nicht, zumindest für die Menschen vor Ort. Auch wenn weltweit die Hoffnung bestand, die russischen Drohgebärden blieben am Ende ohne Konsequenz, in der Ukraine hatte man eigentlich ab dem Sommer 2021 mit dem Angriff gerechnet. Die Partnerorganisationen von Renovabis waren deshalb vorbereitet, es gab bereits Notfall- und Evakuierungspläne, die sie im Februar parat hatten. Doch auch sie waren von der Wucht des Angriffs überrascht. Vor allem in der Anfangsphase musste vieles unter hohem Zeitdruck organisiert werden, seien es Fahrzeuge für Suppenküchen oder die Ausstattung von Räumlichkeiten, in denen die Flüchtlinge unterkommen konnten. Nothilfe bleibt auch Monate später ein wichtiges Thema. 134 solcher Projekte zählt Renovabis, welche die Ukraine, aber auch die Nachbarländer betreffen, die Flüchtlinge aufgenommen haben. Doch auch wenn der Krieg nach wie vor weitergeht, der Blick ist gleichzeitig nach vorne gerichtet. Es gilt, die Infrastruktur zu stützen und den wirtschaftlichen Kreislauf aufrechzuerhalten. Und es geht bei Renovabis um die Frage, wie es später einmal weitergehen kann. „Wir vergeben gerade Stipendien an einer westukrainischen Universität, damit die jungen Studierenden weiterlernen können. Wir wollen den Menschen in der Ukraine eine Perspektive bieten.“
Medizinische Versorgung bis in den letzten Winkel
Doch bis es so weit ist, heißt es für viele erst einmal, den Alltag zu bewältigen. Zahlreiche Organisationen arbeiten hart daran, die Menschen versorgen zu können, die nicht fliehen konnten oder wollten und noch immer in der Ukraine ausharren. Hinzu kommt, dass viele Ukrainer in den Krieg ziehen mussten und deshalb ihre Familien nicht mehr versorgen können. Darunter leiden etwa die Kinder, aber auch die Alten, um die sich die Männer bislang kümmerten. Wichtig ist es daher, gerade die Schwachen nicht sich selbst zu überlassen. Einfach ist das nicht, vor allem in den umkämpften Gebieten im Osten oder Süden des Landes. „Die Lage ist in weiten Teilen des Landes verheerend. Es fehlt an praktisch allem“, fasst Oana Bara, Kommunikations-Delegierte des Deutschen Roten Kreuzes, die derzeitige Situation zusammen. „Ob Wasserversorgung, Stromversorgung, medizinische Versorgung, vieles ist zerstört. Es wird Jahre dauern, das alles wiederaufzubauen. Selbst wenn der Krieg vorbei sein sollte, wird das lange ein Thema sein. Es braucht da neben der akuten Hilfe auf jeden Fall eine langfristige Unterstützung.“
Akute Hilfe bedeutet beim Deutschen Roten Kreuz und den Schwesterorganisationen gerade auch eine medizinische Betreuung der Menschen. Das ist natürlich vor allem in den noch immer stark umkämpften Gebieten eine große Herausforderung. „Dies betrifft besonders den vulnerabelsten Teil der Bevölkerung“, fährt Bara fort. „Menschen, die nicht vor dem Krieg fliehen konnten, weil sie etwa zu alt sind oder zu schwach oder auch Behinderungen haben. Diese dürfen wir nicht im Stich lassen und bringen sie deshalb mit Krankentransporten aus der Stadt, um sie an sicheren Orten medizinisch betreuen zu können.“ Das erfordert gute Planung und Absprache, sowohl mit anderen Organisationen, die an diesen internationalen Rettungsaktionen beteiligt sind, wie auch der Regierung. Und es erfordert viel anschließende Betreuung, wenn alte Menschen, die vielleicht nie zuvor ihre Heimat verlassen haben, auf einmal in ein fremdes Land müssen, wo sie die Sprache nicht verstehen und oft auch niemanden kennen. Viele von ihnen sind traumatisiert nach den Erfahrungen in den vorangegangenen Monaten, müssen sich erst an ein Leben außerhalb des Krieges wieder gewöhnen.
Aber selbst wer nicht im unmittelbaren Kriegsgebiet lebt, hat unter den gewaltigen Zerstörungen der Infrastruktur zu leiden. Wer auf dem Land lebt, ist oft von einer medizinischen Versorgung abgeschnitten. Abhilfe schaffen hier mobile Gesundheitsstationen. Dabei handelt es sich um Vans, die vollgepackt sind mit Medikamenten, Blutzuckerstreifen (Diabetes), Trauma-Kits, Tests für Covid, Hepatitis und Schwangerschaft, umfangreichen Erste-Hilfe-Sets oder auch automatisierte externe Defibrillatoren. Das medizinische Personal ist konstant unterwegs und fährt in die entlegensten Gebiete, etwa an der Grenze zu Belarus. So können auch die Menschen in Dörfern betreut werden, die ansonsten viele Stunden von der nächsten Klinik entfernt sind. Ein Pflegedienst, der vom Ukrainischen Roten Kreuz organisiert wird, ist in der Gegend unterwegs und sorgt dafür, dass alle Menschen, die Betreuung brauchen, diese auch erhalten. Wenn nötig, geht dieser auch einkaufen oder bringt Spenden vorbei.
Der Beginn neuer Freundschaften
Doch wie sieht es mit dem Alltag derjenigen aus, die alles hinter sich gelassen haben und jetzt in einem fremden Land ein neues Leben suchen? Die Versorgung solcher Flüchtlinge ist ein wichtiges Ziel zahlreicher Organisationen. Und ein schwieriges, da es viele Millionen Menschen betrifft, was an manchen Orten zu Überlastungen geführt hat. Versorgung kann dabei auch mehr sein als nur Medizin, Unterkunft und Lebensmittel. Einen ganz eigenen Ansatz verfolgt beispielsweise die Stiftung Bildung, die sich speziell um aus der Ukraine geflüchtete Kinder und Jugendliche kümmert. Genauer vermittelt sie Patenschaften zwischen ihnen und Gleichaltrigen in Deutschland. „Das kann die unterschiedlichsten Formen annehmen“, wie Vorstandsvorsitzende Katja Hintze erklärt. „Sie machen vielleicht Hausaufgaben zusammen, sind sportlich aktiv oder nehmen an gemeinsamen Projekten teil. Ziel ist es, diesen jungen Menschen die Ankunft in Deutschland zu erleichtern und vielleicht auch Ängste abzubauen. Und das geht am besten, wenn sie sich alle auf Augenhöhe begegnen und einfach Freude miteinander erleben.“
Patenschaft bedeutet hier deshalb nicht, was viele mit dem Begriff verbinden werden: die Unterstützung eines Kindes in einem weit entfernten Land, etwa in Afrika oder Asien. Stattdessen ist die Philosophie hinter diesen Patenschaften, dass ein gemeinsames Erleben und ein geteilter Alltag beide Seiten bereichert. Allein schon der sprachliche Aspekt stellt eine derartige Bereicherung dar: Die wenigsten der geflüchteten Kinder können Deutsch, Ukrainisch wiederum ist bei uns keine sehr geläufige Sprache. Da kommen Umwege über andere Sprachen zum Einsatz, vielleicht auch technische Hilfsmittel. Zur Not hilft nur, mit Händen und Füßen zu kommunizieren, ganz klassisch. Ein Problem ist das nicht. Tatsächlich stellt sich diese vermeintliche Hürde oft als Chance heraus, wenn beide aus den Begegnungen lernen und sich spielerisch eine neue Sprache aneignen, genügend Neugierde vorausgesetzt. Es soll diesen Austausch geben. Mehrsprachigkeit ist kein bloßes Mittel zum Zweck, sondern durchaus ein Nebenziel einer Patenschaft.
Das ist keine ganz neue Erfindung der Stiftung Bildung. Seit Jahren schon stiftet sie Partnerschaften in den verschiedensten Kontexten. Allein 2022 sollen 3000 neue Tandems entstehen, von denen ein Teil speziell für ukrainische Kinder und Jugendliche gedacht ist. Wie eine solche Patenschaft aussehen kann, wird individuell entschieden. Mal werden gemeinsam aus Ton Fliesen gefertigt, die am Ende als Wandbild in der Schule aufgehängt werden, mal wird gemeinsam gekocht. Aber auch eine psychologische Betreuung kann Teil solcher Patenschaften sein, wenn Kinder durch die Erfahrungen traumatisiert sind. Eine ehrenamtliche Person betreut mehrere dieser Patenschaften und steht als Ansprechpartner oder Ansprechpartnerin bereit. Im Gegensatz zu anderen Flüchtlingsprogrammen, bei denen es um akute Notwendigkeiten geht, sind diese Patenschaften als eine andere Form der Unterstützung angelegt. Und sie seien langfristig angelegt, betont Hintze. „Unser Ziel ist es, dass diese Patenschaften zu Freundschaften werden, die weit über das Ende des Kriegs hinaus Bestand haben werden.“ Und auch in anderer Hinsicht ist der Blick auf die Zukunft gerichtet: Tandems zwischen ganzen Familien sind ebenfalls angedacht.
Unterstützung von Journalisten
Eine ganz andere Form der Unterstützung bietet Reporter ohne Grenzen, eine seit 1985 international tätige Organisation, die für Pressefreiheit kämpft. Wie wichtig eine solche ist, zeigt ebenfalls der aktuelle Krieg. In Russland darf dieser noch immer nicht als solcher benannt werden. Wer das dennoch tut, muss mit harten Strafen rechnen. Aber auch in der Ukraine geht der Journalismus mit großen Gefahren einher, wie sich Daniela Dibelius, Teamleitung Fundraising bei Reporter ohne Grenzen, erinnert. „In der Anfangsphase hatten wir sehr viele Anfragen nach Helmen und kugelsicheren Westen von Journalisten und Journalistinnen, die aus dem Kriegsgebiet berichten wollen. Deshalb haben wir in Lwiw und Kyjiw zwei Zentren für Pressefreiheit eröffnet, die das benötigte Equipment austeilen und den Medienschaffenden als Anlaufstelle bei Problemen jeglicher Art dienen.“
Darüber hinaus unterstützt Reporter ohne Grenzen Journalistinnen und Journalisten, die zur Flucht gezwungen sind. Dies betrifft nicht nur Medienschaffende aus der Ukraine, sondern vor allem auch aus Russland. Weil Pressefreiheit dort nicht mehr existiert, blieb vielen nichts anderes übrig, als ihre Heimat zu verlassen. Dies ist oft mit großen Gefahren verbunden. Zudem stehen viele im Exil vor der Frage: Was nun?
An dieser Stelle kommt der JX Fund – European Fund for Journalism in Exile ins Spiel. Im April 2022 gemeinsam von Reporter ohne Grenzen, der Schöpflin Stiftung und der Rudolf Augstein Stiftung ins Leben gerufen, soll er Medienschaffenden schnell und unbürokratisch dabei helfen, ihre Tätigkeit im Exil fortzusetzen. Auch dabei gab und gibt es viele Hindernisse. So wurden beispielsweise viele Internetseiten von Journalisten gesperrt. Reporter ohne Grenzen half dabei, dass diese weiterhin abrufbar sind. Andere kamen in hiesigen Medienhäusern oder Redaktionen unter. Viele entschieden sich jedoch bewusst, in der Heimat zu bleiben. Für sie bleibt die Situation schwierig, hält Dibelius fest. „Umso wichtiger ist, dass wir sie auch weiterhin unterstützen und dadurch weiterhin unabhängig darüber informiert werden, was in der Ukraine geschieht. Denn nur wenn wir das wissen, können wir etwas tun und den Menschen helfen.“
Oliver Armknecht
Fotos: Renovabis, Maksym Trebukhov/Ukrainisches Rotes Kreuz/IFRK, Marcin Wolski/Polnisches Rotes Kreuz, August-Jaspert-Schule in Frankfurt am Main, Shutterstock
Der Artikel erschien im Spendenmagazin 2022.